Individualisierter und kompetenzorientierter Unterricht

Mehr und mehr findet der Schulunterricht in Mathe, Deutsch und Englisch an Hamburger Schulen unter und mit den schönen Schlagworten „Individualisiert“, „Lernfeld- und Kompetenzorientiert“ statt. Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht mehr nur „stumpf Wissen pauken“, sondern „Kompetenzen erwerben“.

Das in der Schule zu erwerbende Fachwissen ist in Bildungsplänen – wie die Lehrpläne heute in Hamburg heißen – festgeschrieben. Allerdings häufig nicht mehr im fachlichen Detail, sondern dieses wird mit sogenannten „Kompetenzfeldern“ definiert.

Was steckt denn nun so wissenschaftlich, schulisch-bildungstechnisch hinter den Schlagworten wie „Kompetenz“ und „Individualisierung“? Dieser Frage wollte der Schulausschuss der Hamburger Bürgerschaft mal genauer nachgehen und führte am 16.04.2013 in öffentlicher Sitzung eine Experten-Anhörung zum Thema

„Individualisierter und kompetenzorientierter Unterricht: Bedingungen für guten Unterricht“

durch. Anwesend neben den Ausschussmitgliedern war natürlich auch Schulsenator Rabe samt dem Landes- und den Oberschulräten der Freien und Hansestadt Hamburg.

Geladen waren unter anderem als angehörte Experten:

Frau Prof. D. Kilius, Uni Hamburg und die Herren Profs. M. Clausen von der Uni Duisburg und H. P. Klein, Uni FF/Main. Allesamt nicht unbedingt als „nobodies“ in den Bildungswissenschaften zu bezeichnen… Von dieser öffentlichen Sitzung gibt es natürlich das Protokoll Drucksache 20/22, aus dem wir hier mal auszugsweise zitieren möchten, was die vorgenannten Wissenschaftler dem Schulausschuss zum Thema Kompetenz und Individualisierung an unseren Schulen so mitzuteilen hatten. Unseres Erachtens wichtige Aussagen haben wir unterstrichen. Der guten Ordnung halber weisen wir darauf hin, dass es sich um ein „Wortprotokoll“ handelt, heisst, dass es Wort für Wort mitgeschrieben wird. Die Auskünfte und Wortmeldungen werden so aufgeschrieben, wie sie gesprochen wurden. Auch die angehörten Experten sprechen daher spontan, „wie der Schnabel gewachsen ist“ und nicht wie bei einem TV-Interview, wo die Fragen zwei Wochen vorher eingereicht werden…

Prof. Kilius:

„Kompetenz umfasst nach Weinert (Bildungswissenschaftler, d. Verf.) Wissen, …Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch die Bereitschaft zur Bewältigung komplexer Problemlösungen. Zur Gestaltung eines kompetenzorientierten Unterrichts gibt es eine Reihe von unterschiedlichen Überlegungen. Dazu gehören anwendungsorientierte und kognitiv anregende Aufgaben, die Vernetzung von neuem mit bereits gelerntem Wissen Kompetenzen sind folglich inhaltsbezogen, also nicht inhaltsleer, sondern inhaltsbezogen, aber auch stark zweckgebunden und Output-orientiert. Sie fokussieren dabei auf Basisqualifikationen im sprachlichen und mathematischen Bereich, und ermöglichen somit die Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben. Kompetenzen decken also einen pragmatisch bedeutsamen Kern allgemeiner Bildungsziele ab. Sie stehen dabei aber nicht im Gegensatz zu anderen Bildungszielen, sondern können zu deren Realisierung beitragen.“

Prof. Clausen:

„Individualisierter Unterricht als Extrempol im Wortsinne ist aus meiner Sicht Einzelunterricht, der dem Privatlehrer gleichkommt, der in einem staatlichen Bildungswesen aus Kostengründen nicht leistbar ist. Individualisierung von Lernprozessen ist im schulischen Setting schwierig, …Kompetenzorientiert, an einer Definition von Franz Weinert, ist die Fähigkeit zu einer domänenspezifischen Problemlösung sowie deren motivationale, volitionale (= Fähigkeit zur Umsetzung) und soziale Grundlagen, also ob man dazu motiviert ist, willens und auch die sozialen Kompetenzen dafür besitzt. Stärkere Anwendungsorientierung, der Werkzeugcharakter von Wissen, Lebensweltnähe, weniger Abstraktionen, wird in diesem Ansatz der Kompetenzorientierung betont. Kompetenzorientierter Unterricht ist eine Hülle, die es aus meiner Sicht noch zu füllen gilt.“

Prof. Klein:

„Ich oute mich einmal auch als langjähriger Lehrer, ich war also auch über 20 Jahre am Gymnasium tätig und habe auch selber alle Funktionen durchlaufen, die man so in der Schule durchlaufen kann. Insofern ist die Expertise, die angefragt ist, nicht nur die eines Professors für Fachdidaktik, sondern auch aus der eines langjährigen Lehrers, der wie gesagt mit Referendarzeit in den Siebzigerjahren alle Dinge durchlaufen hat. Es gibt keine Wissenschaftler, die irgendjemandem von Ihnen genau sagen könnten,wie denn guter Unterricht aussieht; das gibt es nicht. Engländer und Amerikaner, wo ich voriges Jahr eine Gastprofessur hatte in Amerika, die unterhalten sich entsetzt darüber, dass es derzeit kein Land auf der Erde gibt, bei dem die humboldtschen Allgemeinbildungsgedanken so beerdigt worden sind, wie in Deutschland Was soll Bildung eigentlich sein? Schauen Sie in die neuen Kerncurricula hinein, da steht gar nichts mehr von Bildung drin, da ist der Bildungsbegriff eben, so, wie ich eben sagte, in diese Richtung gewandelt worden, dass man Kompetenzen entwickeln soll. Und jetzt komme ich zu dem Kompetenz-Begriff: Es gibt gar keine Kompetenzdefinition. Es gibt keine. Auch die weinertsche Definition – in Anführungszeichen – ist ein Arbeitsbegriff, und selbst Weinert sagt ganz klar, dass man Kompetenz überhaupt nicht definieren kann. Das muss man ganz klar sagen. Das trifft auf die Individualisierung genauso zu. Der Schüler scheitert ja nicht an irgendeiner Mathematikaufgabe weil er irgendeine Kompetenzstufe nicht hat, sondern weil er die Analysisaufgabe oder so etwas nicht verstanden hat. Es geht um Verstehen. Davon ist aber gar keine Rede mehr, von diesem verstehenden Lernen, sondern es geht eben nur noch um Kompetenzstufen und Kompetenzentwicklungsmodelle und Kompetenzstrukturmodelle und Kompetenzen, von denen eigentlich gar keiner weiß, was das ist. Das ist ein Problem, das ist heute gerade in G8 extrem, da lernen die Schüler in einer Woche irgendwas und haben es noch nicht halb verarbeitet, und nächste Woche sind sie wieder an einem anderen Thema dran. Die Kritik kommt daher, dass jetzt diejenigen, die diesen Prozess ins Laufen gebracht haben, praktisch das von oben nach unten durchregiert haben und in den einzelnen Bundeländern jetzt aber teilweise etwas ganz anderes gemacht worden ist. Da kommt der Pflegedienst mit Pflegekompetenz, der Bofrost-Wagen mit Gefrierkompetenz… Kompetenz ist nur ein Begriffscontainer. Je mehr die Leute nicht wissen, wovon sie reden, umso mehr nehmen sie den Kompetenzbegriff in den Mund. Dasselbe trifft auf die Individualisierung zu. Wir müssen uns jetzt zuerst einmal überlegen: Was ist überhaupt Individualisierung? Ich würde der Definition zustimmen von dem Kollegen, wenn ein Schüler zum Nachhilfelehrer geht, also zwei Augen zu zwei Augen, der ihm in seinem persönlichen Verständnisproblem dann in einer Nachhilfestunde dieses Verständnisproblem versucht zu beheben, was manchmal gelingt, manchmal auch nicht, dann ist das sicherlich die optimale Form einer Individualisierung. …vielen Professoren, die eben die derzeitige Entwicklung sehen, dass die Kompetenzorientierung dazu genutzt wird, einen drastischen Abbau an fachwissenschaftlichen Grundlagen zu betreiben, die dann dazu führt, dass wir in den letzten Monaten oder Jahren, wahrscheinlich in den nächsten Jahren noch viel mehr, immer mehr sehen. Ein immer größerer Anteil von Studierenden ist nicht in der Lage, ein Studium aufzunehmen. Mittlerweile hat das auch das BMBF eingesehen; es gibt mittlerweile Brückenkurse für angehende Studierende. Diese Brückenkurse haben nur die Bedeutung, die Defizite, die vor allen Dingen im Fachwissen jetzt auftreten, irgendwie auszugleichen, sodass die Abbrecherquoten, die in Mathematik oder den Naturwissenschaften teilweise bei 90 und mehr Prozent liegen, nicht noch größer werden. Hier ist also ein Problem aufgetreten mit der Kompetenzorientierung, was niemals von den Erstellern auf den Weg gebracht worden ist, sondern weil es in den einzelnen Ländern dazu genutzt worden ist, ich sage es einmal ganz einfach, hohe Abiturientenquoten zu generieren…

Aus den obigen Aussagen der Bildungsexperten könnte man vielleicht die folgenden Subsumptionen ziehen:

  • „Guter Unterricht“ an Schulen ist nicht klar definiert
  • Individualisierter Unterricht ist schulisch in Klassenverbänden schwer umzusetzen und ist nicht klar definiert
  • Kompetenzen müssen auf Basisqualifikationen fußen, sollen anwendungsorientiert und nicht inhaltsleer sein
  • Der Kompetenzbegriff ist nicht klar schulisch umsetzbar definiert
  • Der humboldt’sche Ansatz der Allgemeinbildung wird in Deutschland nicht mehr umgesetzt
  • Kompetenzen korrelieren in der Umsetzung (so) nicht mit Bildung und vermitteln kein verstandenes Wissen
  • Erwerb von Kompetenz setzt gefestigtes, abrufbares Basiswissen in einem Fach voraus, welches dann auch angewendet werden kann
  • ein verkürztes Gymnasium G8 kann solches Basiswissen nicht mehr ausreichend verfestigen
  • Kompetenzorientierter Unterricht generiert zwar hohe Abiturquoten, befähigt aber nicht zum Studium

Streng genommen wird hier von den Experten der momentanen (bildungspolitischen) Ausgestaltung des Schulunterricht und der schulischen „Wissens“-vermittlung ein „Mangelhaft“ erteilt.

Eine euphemistische Begrifflichkeit ohne signifikanten Inhalt zersetzt schulische Wissensvermittlung und den humanistischen Allgemeinbildungsbegriff. Bildungspolitik setzt an Schulen operativ um, was die Bildungswissenschaft noch nicht einmal genau hat definieren können, aber schon in Lehrplänen (i.e. Bildungsplänen) und in Curricula fleissigst (in Hamburg) umgesetzt ist.

(Hamburger) Abiturienten sind offensichtlich nur noch mit zusätzlichen, vorbereitenden „Stützkursen“ in der Lage, ein Studium zu beginnen. Was nützt denn da eine Abiturquote von 50% dem Gemeinwesen? Nur weil die OECD hier in anderen Ländern höhere Studienberechtigungs-Quoten ermittelt hat?

Um sich kreativ – Erkenntnis schaffend – in einem Fachbereich sicher bewegen zu können, ist gefestigtes, konditioniertes (!) Basiswissen eine unabdingbare Voraussetzung. Wie will man einen guten Aufsatz schreiben, wenn Schüler nicht den logischen Unterbau der Sprache und die Grundlagenstruktur (Einleitung Hauptteil, Spannungsbogen aufbauen, Schluss) beherrscht? Wie kann der Maler-Azubi eine Wand tapezieren, wenn er nicht mal die Quadratmeter berechnen kann? Wie kann man Terme auflösen, ohne die anwendungssichere Beherrschung der Binome? Wie soll nachvollziehbar schriftlich argumentiert werden, wenn man a) gar nicht weiß, was ein Argument ist und b) den Begriff der Erörterung schulisch nicht mit Inhalt belegen kann? Wie sollen Eltern Ihre Sprösslinge schulisch unterstützen, wenn schon in der Grundschule ein fachlich-methodischer Aufbau durch eine Unzahl von ausgeteilten Zetteln kaum noch erkennbar ist?

Schulisches Wissen baut in den (zum Beispiel Mathe, Deutsch oder Englisch) klar von Schuljahr zu Jahr aufeinander auf. Wer im Englischen If-Clauses bilden will, muss die Tenses sicher beherrschen. Eine hohe Intelligenz oder ein bloßes „Teilgenommen“, wie früher im Religions-Unterricht, reicht da ab einer bestimmten Klassenstufe schlicht nicht mehr aus.

Heute werden „Lernfelder“ schulisch nicht selten nur vom Lehrer noch „vorgestellt“ und vom Unterrichtspersonal zwangsweise „durchgeschossen“, ohne dass sich das Wissen bei den Schülerinnen und Schülern verfestigen konnte. Nur schlechte Noten geben, geht nicht, sonst steht einem Fachlehrer schon mal der Stufenkoordinator auf den Füßen, weil’s ja den Schul-Schnitt nach unten drückt… Das rächt sich bei den Schülern dann in den nächst höheren Klassenstufen oder spätestens beim Eintritt in das Berufsleben, weil der Einstellungstest des Unternehmens nicht erfolgreich absolviert werden kann oder man im Studium schon an den ersten Klausuren scheitert.

Die Arbeit unserer professionellen Einzelnachhilfe zu Hause besteht dann häufig auch mit darin, die entstandenen Basis-Wissenslücken auch in höheren Klassen zu schließen und bei unseren Schülern Lern- und Arbeitsstrukturen zu legen, damit diese in die Lage versetzt werden, dem Unterrichtsgeschehen wieder selbstständig folgen zu können.

Das Protokoll der Bürgerschaft Drucksache 20/22 v. 16.04.2013 kann über die Parlamentsdatenbank eingesehen werden:

https://www.buergerschaft-hh.de/Parldok/Cache/C610B2E5C83540B0BF0107A0.pdf

Veröffentlicht von

Dr. Kai Pöhlmann

Dr. Kai Pöhlmann ist Inhaber der ABACUS Nachhilfe Institute Hamburg und Kreis Pinneberg und Gründer des ersten ABACUS-Nachhilfeinstitutes nördlich der Isar. Google+