Vom Mathe-Lernen mit Schulbüchern

Über Lehrmethoden mit und ohne Schulbücher im Fach Mathematik und was dabei heraus kommen kann. Von den Schülerinnen und Schülern unserer Schulen wird am Anfang eines neuen Schuljahres selbstverständlich erwartet, dass sie gut motiviert und ausgestattet mit den jeweils hoffentlich von der Schule ausgegebenen Lehrbüchern antreten. Zum Ende des Schuljahres sind diese Schülerinnen und Schüler dann in der Regel aufgefordert, diese Lehrbücher für die Folgejahrgänge rechtzeitig wieder abzugeben und neue „zu fassen“.

Wie die Lehrbücher zwischen diesen beiden markanten Terminen dann benutzt beziehungweise nicht benutzt werden, das setzt den im MINT-Bereich tätigen ABACUS Nachhilfelehrer von Zeit zu Zeit in Erstaunen. Es steht außer Frage, dass dieses Thema in einem engen Kontext mit den in der aktuellen Unterrichtspraxis angewendeten Methoden der Wissensvermittlung schlechthin steht und unter dem Schlagwort „Lernfeldorientierte Kompetenzvermittlung“ bekannt geworden ist.

Zwei Beispiele sollen deutlich machen, wo unbefriedigende Leistungen von Schülerinnen und Schülern ihre Ursache – neben anderen – haben können. Wie bei derartigen Gelegenheiten üblich sei ausdrücklich betont, dass etwaige Ähnlichkeiten der beispielhaft dargestellten Szenarien mit tatsächlich Geschehen „rein zufällig“ sind ;-).

Eine Oberstufenklasse hat sich über einen üblichen Zeitraum mit einem der Kerngebiete der Analysis – der Differentialrechnung – beschäftigt. Das Themengebiet wurde mit einer Klausur abgeschlossen. In der Unterrichtseinheit mit dem ABACUS Nachhilfelehrer nach der Klausur berichtet der Schüler, dass nunmehr Analytische Geometrie, im Besonderen die Vektorrechnung, behandelt würde. Hierzu hatte der Lehrer in der ersten Unterrichtsstunde eine DIN A4 – Seite verteilt, die auf beiden Seiten bedruckt war. Kernstück war ein räumlich dargestelltes Haus in einem x,y,z – Achsenkreuz, einige Eckpunkte der Hauskonstruktion waren mit ihrem Koordinaten – Tripel gekennzeichnet.

Eine Aufgabe bestand darin, die räumlichen Koordinaten aller Eckpunkte des Hauses einzutragen. Ferner sollte die Länge der Hauskanten ermittelt werden: Im Ganzen also so etwas wie ein möglicher erster Einstieg in dieses Gebiet auf der Basis eines Arbeitsblattes. Vertiefende Erklärungen hierzu hatte es nicht gegeben. Der ABACUS Nachhilfelehrer wollte in Erfahrung bringen, was das begleitende Mathematikbuch zur Einführung in dieses neue Thema „zu sagen hat“. Das verblüffende Ergebnis dieser Recherche war: Ein Mathematikbuch zum Nachlesen und Vertiefen dieses Stoffes steht den Schülerinnen und Schülern der Klasse nicht zur Verfügung.

In einem anderen Fall – ebenfalls der Sekundarstufe II – wurden ebenfalls die bekannten Themen der Differentialrechnung mit Schwerpunkt „Kurvendiskussion“ behandelt. Eine Klausur war längerfristig angekündigt. Etwa eine Woche vor dieser Klausur lässt der Mathematiklehrer zwei Schüler zur Überraschung der anderen einen Vortrag halten über betriebswirtschaftliche Sachverhalte, die in kaufmännisch orientierten ANALYSIS – Lehrbüchern im Zusammenhang mit Differentialrechnung enthalten sind: Kostenentwicklung, Erlösansätze in monopolistischen und polypolistischen Märkten sowie Gewinngestaltung und Optimierung. Es wurde in Aussicht gestellt, dass dieses Thema in der nahen Klausur eine wichtige Rolle spielen werde. Statt Erklärungen des Fachlehrers gab es nur den Hinweis, man möge sich die entsprechenden Seiten im Mathematikbuch „ansehen“. Hier gab es immerhin ein Solches, wenn es auch bei der Wissensvermittlung durch den Lehrer im Unterricht bisher ohne Bedeutung geblieben war. Ergo musste das Thema dann in der Mathe-Nachhilfe erst erarbeitet werden.

Diese hier dargestellten Szenarien sind nur zwei Varianten einer derzeit zunehmend praktizierten Lehrmethode, die zur Folge hat, dass die Vermittlung des Basiswissens weitgehend vom Lehrenden weg zum Lernenden hin verlagert wird. Sie wird von ihren Anhängern im Gegensatz zu dem geschmähten „Frontalunterricht“ propagiert und praktiziert.

Diese Form der Lernfeld-Didaktik erweckt auch den Anschein, Chancengleichheit zwischen den stärkeren und schwächeren Schülern zu gewährleisten, da jeder Schüler sich die „Lernfelder“ in seinem individuellen Tempo selbst erschließen kann. Aus der längerfristigen und regelmäßigen Betreuung von Schülerinnen und Schülern, die eher der zweiten Gruppe angehören, gewinnt der Nachhilfelehrer die Überzeugung, dass hierbei vor allem die Schwächeren leider nicht erreicht und nicht mitgenommen werden.

Die resultierenden Erfolgsdefizite werden im Falle von MINT-Fächern besonders offensichtlich. Es entstehen unter anderem zunehmend Wissenslücken, die im Bereich der Mathematik im Gegensatz zu zumBeispiel Sprachfächern nicht tolerabel sind. Die Aufarbeitung von Lücken ist – naturgemäß – nicht primär Gegenstand dieser Didaktikmethode.

Aus Sicht des Autors ist es die Aufgabe der Lehrenden an unseren Schulen, das Basiswissen in hinreichender Tiefe zu vermitteln. Die Schülerinnen und Schülern sollten gerade in den MINT-Fächern für jedes Fach und in jedem Jahrgang entsprechende Lehrbücher zu ihrer Verfügung haben, auf die der Basisunterricht engen Bezug nimmt. Nur so ist sichergestellt, dass der im Unterricht vermittelte Wissensstoff nachgelesen und gegebenenfalls in häuslicher Nacharbeit vertieft werden kann. Aus dem Dargestellten wird deutlich, dass an der dringend notwendigen Verbesserung dieses Prozesses alle direkt Beteiligten mitwirken müssen:

  • die Schulen und der Lehrkörper als Vermittler von Basiswissen auf der Grundlage effektiver Didaktik
  • die Schüler mit ihrer Lern- und Arbeitsbereitschaft, Basiswissen auf zu nehmen, auch wenn das gegebenenfalls mit eigenen Anstrengungen verbunden ist
  • die Elternhäuser mit ihrem Teil an der Aufgabe, die Arbeitsbereitschaft ihrer Kinder zu generieren, zu stützen, auszubauen und zu überprüfen.

Zum Thema „Effektive Didaktik“ äußerte sich Guido Schwerdt vom Münchner Ifo-Institut im Rahmen der Didaktikdebatte sehr eindeutig: „Wenn Lehrer 10% mehr Zeit auf frontales Unterrichten verwenden, dann zeigen Schüler einen Leistungsvorsprung, der ungefähr dem Wissenszuwachs von ein bis zwei Monaten Schulbildung entspricht“ (Frankfurter Allgemeine, 15.12.2012, „Frontalunterricht macht klug“).

Veröffentlicht von

Hensel

Prof. Dr. Wilfried Hensel, TU Berlin. 30 Jahre naturwissenschaftliche Lehrerfahrung

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