Anteil der Förderschüler in Hamburg stark gestiegen

so titelten die Medien vor vier Wochen: Für viele überraschend ist seit Einführung der Inklusion in Hamburg (= Einschluss: Gemeinsamer Schulunterricht von Schülern mit und ohne Disparitäten an Regelschulen) die Zahl der als Förderschüler Eingestuften insgesamt deutlich gestiegen, vermeldete schon im März 2013 die Bertelsmann-Stiftung: Der Anteil Hamburger Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf stieg schon im Schuljahr 2010/20111 auf 24,4% von 16,2% im Jahr davor und ist weiter steigend. Die Bertelsmann-Stiftung prognostizierte einen zusätzlichen (!) Finanzbedarf für die Inklusion in Hamburg von € 34,6 Mio. (vgl. ebenda). Allein der Anteil von sogenannten LSE-Schülern (= Defizite im Bereich Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung) hat sich in Hamburg von 478 auf 1078 Schülern mehr als verdoppelt.

Gleichzeitig steigt der Anteil der Förderschüler, die an Regelschulen angemeldet werden, weiterhin an. Das passiert auch in anderen Bundesländern, so zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, wo dem Rechnungshof die deutlich gestiegene Sonderschüler-Quote aufgefallen ist, wie die dpa meldete (dpa Dossier Nr. 19/2013 v. 06. Mai 2013).

Offensichtlich kann sich die BSB Hamburg den Anstieg von Schüler mit erhöhtem Förderbedarf nicht so richtig erklären und beauftragte Wissenschaftler der Uni Hamburg mit der Ursachenforschung des gestiegenen Anteils von Förderschülern in Hamburg.

Das findet der Nachhilfe News Blog natürlich gut, denn der Begriff des Verstehens steht ja in der Hermeneutik immer im Vordergrund ;-). Oder klassisch aufsetzend auf Dilthey die Beantwortung der klassischen wissenschaftlich-hermeneutischen Fragen:

  1. Welches ist die ursprüngliche Form der Manifestation?
  2. Welche Absichten hat der Urheber mit der Manifestation verfolgt?
  3. Wie verhalten sich Leistung und Absicht des Urhebers zur Wahrheit im Sinne des Interpreten? (nach Wuchterl, K., Lehrbuch der Philosophie, Bern 1989, S. 100 ff.)

Habermas denkt es in seinem Werk „Erkenntnis und Interesse“ (Meiner Verlag Hamburg 2008) weiter hin zum „emanzipatorischen Erkenntnisinteresse“ (hier dann die Absicht bei der Durchführung eines Forschungsvorhabens), Klafki unterscheidet dann noch zwischen historisch-hermeteutischer und systematisch-hermeneutischem Erkenntnisinteresse, was uns hier aber philosophisch-differenzierend zu tief gehen würde und an der Problemlage vorbei geht 😉

Die Frage nach dem „Warum steigt die Zahl der Förderschüler?“ könnte man auch umformulieren in „Wem nützt es?“

Zur Beantwortung der Frage ist es angeraten, sich in die Niederungen der Hamburger Schulgesetzgebung und der daraus resultierenden Mittelverteilung und Zuwendungen zu begeben. Ebenso ist die Ebene der „Betroffenen“, 1. der Schulen und 2. der Eltern / Schüler zu betrachten:

Die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg hat – als Vorreiter in Deutschland – die Inklusion de jure am weitesten voran getrieben und mittlerweile auch in eine entsprechende juristische Form gegossen: Die Drucksache 20/3641 „Inklusive Bildung an Hamburgs Schulen“ v. 27.3.2012 definiert das grundlegende Verfahren.

Um es abzukürzen: Regelschulen in Hamburg erhalten mit mehr Förderschülern unrer anderem „zusätzliche personelle Ressourcen“, die sich einmal aus dem in letzter Zeit viel zitierten Sozialindex – KESS-Faktor – berechnen und andererseits eben auch aus der Anzahl der tatsächlich gemeldeten Förderschüler (= „schülerbezogene Ressource“). Wir zitieren aus der oben erwähnten Drucksache S. 6:

„Die zusätzliche Ressource für Schülerinnen und Schüler mit speziellem Förderbedarf umfasst bei dem oben vorgeschlagenen Professionenmix pro Schülerin beziehungsweise Schüler an Halbtagsschulen 7,0 und an Ganztagsschulen nach Rahmenkonzept 9,0 zusätzliche Unterrichtswochenstunden. Wird die gesamte Personalressource ausschließlich über die Profession Sonderpädagogin / Sonderpädagoge eingesetzt, beträgt die Personalressource an Halbtagsschulen 5,6 und an Ganztagsschulen nach Rahmenkonzept 7,2 zusätzliche Unterrichtswochenstunden. Dies ergibt eine Zuweisung in Höhe von 10,06 Wochenarbeitszeitstunden (WAZ) in der Halbtagsgrundschule und 12,93 WAZ in der Ganztagsgrundschule sowie in der Sekundarstufe I in einer Halbtagsschule von 10,43 WAZ und in einer Ganztagsschule von 13,41 WAZ.“ (Sonderpädagogen wird hier übrigens durch den kleineren Schlüssel eine höhere Arbeitsproduktivität zugestanden ;-))

Übersetzt bedeutet das: Je mehr Förderschüler eine Regelschule hat beziehungsweise der Behörde meldet, desto mehr Lehrer (-stundenzuweisungen) erhält diese Schule dann auch. Wenn hier die Bemessung verändert wird, wie beispielsweise in Hamburg gerade die „systemische Ressource“ durch die Neufestlegung des Sozialindexes, beginnt natürlich bei den negativ betroffenen Schulen das Lamentieren, denn diese müssen Lehrer- bzw. Stundenzuweisungen abgeben. Geld und Lehrer sind nun mal endlich vorhanden in Hamburgs Behörden…

2. Die Ebene der Eltern / Schüler:

In Hamburg ist für Schülerinnen und Schüler (SuS) mit erhöhtem beziehungsweise sonderpädagogischen Förderbedarf ein ganzes Potpourri von Erleichterungen und individuellen Fördermaßnahmen möglich. Diese – für den jeweiligen Individualfall sinnvollen (!) – Maßnahmen sollen den Förderschülern den Regelschulbesuch erleichtern. Ist der individuelle sonderpädagogischer Förderbedarf bei einer/m SuS erst einmal behördlich festgestellt, gibt es individuellen „Nachteilsausgleich“, nachzulesen in der „Handreichung Nachteilsausgleich“ der BSB-Hamburg v. März 2013, als da zum Beispiel an wären:

  • Zeitzuschlag bis maximal zur Hälfte der regulären Bearbeitungszeit, zum Beispiel bei Klassenarbeiten oder anderen schriftlichen Arbeiten
  • Bereitstellen von technischen und didaktischen Hilfsmitteln (zum Beispiel elektronische Textverarbeitung, Anschauungsmittel im Rechnen)
  • Vorlesen von Aufgabenstellungen
  • Erteilen von mündlichen Aufgaben, die auch mündlich beantwortet werden, statt schriftlicher Arbeiten (beispielsweise in Deutsch bei Rechtschreibschwäche)
  • Gewährung zusätzlicher Arbeitszeit für Aufgaben im Regelunterricht
  • spezifisch gestaltete Aufgabenstellungen im Regelunterricht
  • spezielle Organisation des Lern- beziehungsweise Arbeitsplatzes
  • quantitativ reduzierte Aufgabenstellungen
  • Reduzierung der Hausaufgaben
  • individuell gestaltete Pausenregelungen
  • individuelle Sportangebote
  • veränderte Inhalte für Tests und Arbeiten
  • größere Exaktheitstoleranz (zum Beispiel beim Schriftbild oder bei zeichnerischen Aufgaben)
  • Ausgleichsmaßnahmen anstelle einer Mitschrift von Tafeltexten. (vgl. S. 12 der Handreichung)

oder:

  • Hilfen beim Erlesen von Arbeitsanweisungen, Verständnishilfen und Erläuterungen sowie Unterstützung beim Erfassen längerer Texte
  • verkürzte oder differenzierte Aufgabenstellungen bei Diktaten
  • Verlängerung der Bearbeitungszeit von schriftlichen Arbeiten um bis zu 50% der regulären Zeitvorgabe
  • größere Toleranz bei individuellen grammatischen beziehungsweise rechtschriftlichen Lösungen
  • Bereitstellung technischer, optischer und / oder didaktischer Hilfsmittel (zum Beispiel PC, Diktiergerät, spezielle Stifte, Vergrößerungen)
  • Anschauungsmittelalternative Präsentationen von Aufgaben und Ergebnissen
  • Erteilung von Aufgaben, die schriftlich statt mündlich bearbeitet werden dürfen, bei Redeflussstörungen oder Mutismus
  • klar strukturierte Anordnung der zur Verfügung gestellten Materialien
  • Textoptimierung von Aufgaben
  • räumliche Veränderungen (Akustik, Arbeitsplatz etc.)
  • personelle Unterstützung (zum Beispiel unterstützte Kommunikation)
  • individuelle Leistungsfeststellung / Leistungsnachweise in Einzelsituationen (beispielsweise bei Mutismus und Redeflussstörungen)
  • Ziel soll es sein, die mündliche Prüfung so anzulegen, dass die Kompetenzen, die im Rahmen dieses Prüfungselements nachgewiesen werden sollen, erfasst werden können

oder:

  • Nutzung von Möglichkeiten der Ansprache mehrerer Sinne zur Informationsaufnahme
  • Ersatz mündlicher Leistungen durch schriftliche oder gestalterische Aufgaben
  • Ausgleich schriftlicher Noten durch mündliche Zusatzaufgaben, zum Beispiel Vorträge, Referate oder ähnliches
  • Sicherung der Lehrerzentriertheit, Schaffung optimaler Sichtbedingungen auf Smart-Board, Tafel, Karte etc.
  • Reduzierung des Schreibumfanges, Einsatz differenzierter Lernformen (Einzel- statt Kleingruppenarbeit oder umgekehrt je nach Art der Verhaltensauffälligkeit)
  • Arbeit mit differenzierten Aufgabenstellungen
  • differenzierte Hausaufgaben
  • Bereitstellen zusätzlicher Lern- und Informationsmittel im Unterricht (Nachschlagewerke, Formelsammlungen, Computer etc.)
  • mehr Partner- und Gruppenarbeit, um Orientierung am Vorbild zu ermöglichen
  • phasenweise Einzel- oder Gruppenarbeit (räumliche und / oder zeitliche Differenzierung)
  • genaue Handlungsanweisungen bzw. Handlungsalgorithmen, (vgl. S. 15-17 o.a. Handreichung und so geht es munter weiter)

Auf S. 8 der Handreichung der BSB Hamburg befindet sich noch der – vielsagende – Hinweis zum sonderpädagogischen Förderbedarf der SuS:

„Es besteht keine Notwendigkeit, dass Sorgeberechtigte beziehungsweise volljährige Schülerinnen und Schüler Nachteilsausgleich in einem formalen Verfahren beantragen. Sie können vielmehr die Lehrkräfte auf Unterstützungsbedarf hinweisen beziehungsweise Nachteilsausgleich für Ihre Kinder beziehungsweise für sich formlos beantragen.“

Die Handreichung der Schulbehörde Hamburg zur Inklusion „Nachteilsausgleich“ kann über die BSB-Downloads abgerufen werden.
Haupt-, Realschulabschluss oder Abi? In Hamburg „easy going“? Es besteht für Eltern und (einige) Schüler zumindest die Möglichkeit, sich individuell im Leistungsprinzip der Regelschule „Freiräume“ zu sichern – wobei hier die Frage der individuellen, notwendigen Berechtigung ausdrücklich nicht erläutert werden soll – und sich als SuS so aus dem normativen, allgemeinbildendem Leistungsprinzip der Regelschule ohne allzu großen Aufwand zu excludieren.

Die Eingangsfrage war schließlich nur, warum der Anteil von Förderschülern (in Hamburg an Regelschulen) progressiv steigend ist…

Es entsteht sowohl für betroffene / förderberechtigte SuS als auch für die betroffenen Regelschulen augenscheinlich eine „Win-Win“-Situation 😉

Veröffentlicht von

Dr. Kai Pöhlmann

Dr. Kai Pöhlmann ist Inhaber der ABACUS Nachhilfe Institute Hamburg und Kreis Pinneberg und Gründer des ersten ABACUS-Nachhilfeinstitutes nördlich der Isar. Google+

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