Lateinunterricht – Eine kritische Reflexion

Es gibt viele gute Gründe, die dafür sprechen, dass Schülerinnen und Schüler (SuS) auch heute noch Latein in der Schule lernen: Lateinuntericht ist nicht nur Unterweisung in und an einer „toten Sprache“, sondern unter anderem Sach-, Geschichts-, Literatur-, Philosophie-, Ethik- und Kulturunterricht. Latein ist die Mutter vieler europäischen Sprachen, die Grundlage der Naturwissenschaften (neben Altgriechisch) und fördert durch schulisch abgeforderte Genauigkeit auch die Konzentration und das analytische Denken.

In unserem Nachhilfe Blog Beitrag Latein Nachhilfe mit dem Unterkiefer war dargestellt worden, wie sich SuS in der Latein-Spracherwerbsphase durch die Formenlehre lernend „durchbeißen“ müssen. Dabei kam schon ein weiteres Problemgebiet – die Bedeutungslehre der Wortbedeutungen – zur Sprache. Die Rede ist hier vom für SuS oft leidigen Vokabel lernen.

Weil die Fremdsprache Latein in der Sekundarstufe in aller Regel aus Lehrbüchern heraus gelehrt und gelernt werden muss, erwachsen dem Lateinlehrer hier grundsätzlich systemische Probleme, die die ganze Gehirnkapazität der SuS fordern können: Lehrbuch-lernen geht nicht situativ-imitativ-adaptiv wie in einer Eltern-Kind Situation, in der sozialen Peer-group oder als Erwachsener im fremdsprachlichen Ausland: Es gibt eben bei Latein kein interaktives Einüben eines aktiven Wortschatzes mehr in tatsächlichen Lebenssituationen (Es sei denn, die Eltern seien Kardinäle oder Päpste…); die Wortbedeutungen müssen aus einem Textkontext erarbeitet, für die angeforderte Übersetzung verwendet und nach einer Lektions-Vokabelliste gelernt und dauerhaft (!) abgespeichert werden können. Die Einzelworte sind Grundbausteine jeden Textes, gute Vokabelkenntnisse mit den jeweiligen variablen Wortbedeutungen daher Voraussetzung.

Wie wird hier dann gelernt? Ein „Gedicht“ orientiert an der Wortbedeutungslehre könnte dann lauten:

„fides, fidei, e-Konjugation, f.“, „Treue, Glaube, Verläßlichkeit“. Und extra: „fidem dare“ (= sein Wort geben), „fidem praestare“ (= die Treue halten), „fidem servare“ (= sein Wort halten). (Teilweise entnommen aus: FELIX, Das Lateinbuch, A, Gesamtverzeichnis, Bamberg 2002).

Wie können Lateinlehrer die SuS dazu bekommen, dieses dauerhaft zu behalten und mit durchdringendem Verständnis einzuordnen? Hier ist noch nicht mal die Rede von dem soziologischen Modell, welches Sprache hier abbildet (Reziprozität politisch-menschlicher Beziehungen, patronus-cliens und vice versa – Das Zutrauen des Einen ist die Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers…).

Bei „virtus, virtutis, konsonant. Dekl., f. (= Tüchtigkeit, Tapferkeit, Vortrefflichkeit, Tugend) müsste dann ergänzend doch wohl die Rede sein von der grundlegenden Wirkung der hellenistischen Philosophie auf die Römische Geistigkeit und ihre (übersetzende) Hochsprache. Diese steht doch hinter der Bedeutungserweiterung der lateinischen Vokabel und erschließt so erst Vielfalt und Bedeutungstiefe…

Lateinlehrer unterstellen aber – müssen unterstellen – dass Wortbedeutungslernen auch ohne dieses Hintergrundwissen heutzutage schulisch möglich sein muss und verlangen dieses in Vokabel-Leistungsabfragen als Zielwissen ab. „Was heißt fides?“ „Was heißt virtus?“ In der Leerstelle zwischen dem lateinischen und dem deutschen Wort steht also „heißt“ („hat den Namen“, etwa: „ist gleich…“): Wir lassen unsere SuS die zur Wortgleichung geronnene (Grund-)bedeutung samt Ergänzungen (Auswendig) lernen – also im Grunde etwas Falsches und dabei noch außerordentlich Schwieriges lernen: Das virtuelle Gleichheitszeichen zwischen der „Vokabel“ und ihrer deutschen Entsprechung stimmt eigentlich nicht. Es gibt doch nur eine (mehr oder weniger große, bei „fides=Treue“ als Normalantwort besonders kleine) Schnittmenge.

Begehen wir so nicht eigentlich ein „Verbrechen“ an der Sprache und an unseren Lernenden? Diese Thesis verdiente wohl eine eingehendere Reflexion. Hier sollte eigentlich als Frage aufgeworfen werden:

  • Machen wir unseren SuS den eigentlichen Sachverhalt (Wortgleichungslernen als vermeidbare Krücke beim Buchlernen) ausreichend bewusst (Lernziel „SPRACHREFLEXION“- ein zentrales Anliegen des LU)?
  • Weisen wir unsere SuS ausreichend gründlich in die sachgerechte Benutzung von Wörterverzeichnissen und Lexika ein (Lernziel/Sekundarstufe II „WISSENSCHAFTSPROPÄDEUTIK“)
  • Brauchen wir Pädagogen hier auch ein wenig Latein Nachhilfe?

Veröffentlicht von

Hallberg

Gymnasial-Rektor a.D., Alt-Philologe, Christianeum-Alumnus, über 30 Jahre Lehr- und Leitungserfahrung, seit 2000 Nachhilfelehrer bei ABACUS

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