Noch Mengenlehre im Schulunterricht?

Als Nachhilfelehrer in MINT-Fächern sind die Aufgaben in der Nachhilfe immer vielseitig und oft auch spannend. Sie umfassten praktisch das gesamte Gebiet des Lehr-und Lernstoffes der Sekundarstufe I sowie der Einführungs- (E) und Qualifikationsphase (Q) der gymnasialen Oberstufe.

Die im Sinne der ABACUS-Ziele betreuten Schülerinnen und Schüler haben im Juli das Schuljahr erfolgreich abgeschlossen oder setzen das erfolgreiche „Coaching“ fort. Vielleicht denkt die eine oder der andere auch über das im letzten Schuljahr Erreichte und die Ziele für das kommende nach.

Im Rückblick auf das verflossene Schulhalbjahr greift sich der entspannte ABACUS-Nachhilfelehrer mal ein Thema heraus, das im normalen Schulalltag – scheinbar – eigentlich keine allzu gewichtige Bedeutung hat.
Im Rahmen meines letzten Beitrages hatte ich mich mit der „Medienkompetenz“ der Schülerinnen und Schüler befasst. Im Nachgang hierzu fand ich einen älteren Artikel aus dem „ZEIT magazin“ vom September 2010, der als Überleitung zwischen meinem letzten und dem neuen Kurzbeitrag trefflich passt. Autor Harald Martenstein schreibt dort unter anderem:

“Seit einigen Jahren verschwinden aus den Klassenzimmern die Schultafeln. Es heißt, Schultafeln und Kreide, das sei vorgestrig und bildungsbürgerlich. Stattdessen werden sogenannte Whiteboards eingesetzt, einen deutschen Namen dafür gibt es nicht. Whiteboards sind eine fortschrittliche Bildungsidee, ähnlich wie Mengenlehre, Ganzwortmethode oder jahrgangsübergreifender Unterricht.“

Bei WIKIPEDIA kann man nachlesen, dass die Mengenlehre zum Ende des 19. Jahrhunderts von Georg Cantor gegründet wurde, der wie folgt definiert:

Unter einer „Menge“ verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die „Elemente“ von M genannt werden) zu einem Ganzen.

Nun spielt die Mengenlehre, wie bereits von mir erwähnt, im Schulalltag des Mathematik-Unterrichtes aus – wie ich denke – guten Gründen derzeit bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Dabei geht es im Wesentlichen um Schreibweisen, die aus der Mengenlehre benutzt werden. Wenn es im Zusammenhang mit der Analysis zum Beispiel um den Definitionsbereich einer Funktion geht, findet man in den Lehrbüchern (zum Beispiel: Lambacher/Schweizer, Analysis Grundkurs) Angaben wie:

„R“ hoch ungleich a=R\ {a} (Menge aller reellen Zahlen außer der Zahl a)

Allgemein wird gelegentlich der Zahlenraum, auf den sich die Berechnungen beziehen sollen, in der Form von Mengen angegeben, also zum Beispiel die Menge der ganzen Zahlen:

Z= {…, -2, -1, 0, 1, 2, …}

Auch die im Stoffgebiet Stochastik angewendeten Venn–Diagramme sind der Mengenlehre entnommen, wobei hier sogar bei der Auswertung Rechenoperationen aus der Mengenlehre, nämlich die Bildung von Schnittmengen beziehungsweise Vereinigungsmengen angewendet werden, ohne dass hierauf im Sinne der Mengenlehre näher eingegangen wird (learning by doing).
Aus meiner Sicht können Schülerinnen und Schüler Aussagen – zum Beispiel über den Definitionsbereich einer Wurzelfunktion -, die gelegentlich in der vorerwähnten Sprache der Mengenlehre erwartet werden, mit gleicher Präzision und Eindeutigkeit mit Mitteln formulieren, die Ihnen aus der alltäglichen Unterrichtspraxis wesentlich vertrauter sind. Davon einmal abgesehen erscheint mir das Maß, in dem die Mengenlehre im mathematischen Schulalltag vertreten ist, als “unbedenklich“. 😉

In diesem Kontext sehr erstaunt war ich allerdings, als ich Einblick in Unterrichtsmaterial erhielt, das von Instituten, die den Erwerb zum Beispiel der Realschulreife im Rahmen eines Fernstudiums anbieten, an die Studierenden versandt wird. Die Arbeitshefte im Fach Mathematik, die von den Studierenden im Laufe dieses Fernlehrganges bearbeitet werden müssen, werden bereits von der ersten Einführung der verschiedenen Zahlenräume (Natürliche Zahlen – gerade und ungerade -, Ganze Zahlen, Rationale Zahlen) kompromisslos in der Syntax der Mengenlehre dargestellt.

Damit nicht genug, wird die Behandlung der gängigen Funktionen, die ein Kernstück der Sekundarstufe I bilden, also der Linearen Funktion (Gerade) und der Quadratischen Funktion (Parabel) in den Zusammenhang der Aussagelogik im Sinne der Mengenlehre gestellt (sic!).

Den Begriff der Gleichung, der im Schulalltag gebräuchlich ist, existiert in dieser Betrachtungsweise nicht. Am Anfang steht die “Aussage“ als ein “sprachliches Konstrukt, dem eindeutig der Wahrheitswert “wahr“ oder “falsch“ zugeordnet werden kann.“ Darauf aufbauend wird die “Aussageform“ definiert:

„Eine Aussageform ist ein “sprachliches Konstrukt mit Variable(n), aus dem nach Einsetzen in die Variable(n) aus einer Grundmenge U (dem “Universum”) eine Aussage wird.“

Eine uns aus dem Mathematikalltag her wohlbekannte Gleichung etwa der Art: x – 5 = 3 ist demnach in der in die Mengenlehre “verpackten“ Mathematik eine Aussageform, aber nur dann, wenn eine Grundmenge definiert ist, aus der die Variablen (hier die x- Werte) “gegriffen“ werden.

Im Schulalltag heißt die simple Aufgabe, die im Zusammenhang mit einer derartigen Gleichung gestellt wird: „Löse die Gleichung nach x auf!“ Die Behandlung dieser Aufgabe in der Mengenlehre kennt keine Lösung im vorgenannten trivialen Sinne:

Hier wird auf der Basis der „Grundmenge U“ die „Erfüllungsmenge E“ gesucht, die zu einer Aussage mit dem Wahrheitswert “wahr“ führt. Für das oben genannte Beispiel einer Aussageform lautet die Erfüllungsmenge E = { -2 }, wenn als Grundmenge U die Menge der ganzen Zahlen Z definiert ist.

Ist dagegen die Grundmenge U gleich der Menge der Natürlichen Zahlen N, dann ist die Erfüllungsmenge gleich der leeren Menge E = { }. Schreitet man dann in dieser Welt der Mengenlehre weiter fort in Richtung auf die Darstellung der vorgenannten Grundfunktionen der Sekundarstufe I, wird man wenig Bekanntes aus dem Schulalltag finden. Ich möchte mir und dem geduldigen Leser weitere Exkursionen in dieses Feld schwer erträglicher Abstraktionen gerne ersparen.

Wen verwundert es, wenn angesichts derartiger Darstellungsmethoden in der Mathematik gelegentlich die Meinung vertreten wird, MINT-Disziplinen und insbesondere die Mathematik seien ein „Tummelfeld für “Gehirnsportler“ mit höchsten intellektuellen Ansprüchen.“ Dieser Fehleinschätzung muss mit aller Kraft entgegen gewirkt werden, indem mathematisches Wissen für Schüler so anschaulich und vor allem so anwendungsbezogen wie möglich vermittelt wird.

Bei WIKIPEDIA kann man zum Thema Mengenlehre auch den Satz finden: “Die gesamte Mathematik, wie sie heute üblicherweise gelehrt wird, ist in der Sprache der Mengenlehre formuliert“. Nun, diese Datenbank gilt ja auch als wissenschaftlich nicht unbedingt zitierfähig…

Der geneigte Leser möge mir meine persönliche Nachhilfelehrer-Ansicht hierzu nachsehen: Ich persönlich bin sehr froh darüber, dass die obige These für den hier viel zitierten Schulalltag – Unterricht und Lehrbücher – nicht stimmt.

Veröffentlicht von

Hensel

Prof. Dr. Wilfried Hensel, TU Berlin. 30 Jahre naturwissenschaftliche Lehrerfahrung

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