Die lernende Gesellschaft auf dem Weg ins 22. Jahrhundert

Mit der Abhängigkeit des Menschen von technischen Geräten haben sich Kulturen, Mentalitäten, Kommunikation, Sprache und Denken verändert. Der Verdacht, dass sich mit der Nutzung des Internets kollektiv kognitive Fähigkeiten gemindert haben und eine Kultur der Oberflächlichkeit befördert wird, obliegt einer medienanthropologischen Diagnose, die nicht haltbar ist.1 Das Medium hat zweifelsohne das Denken in der Gesellschaft verändert – aber in einer Dimension, in der vor allen Dingen die visuellen Kompetenzen und logischen Kapazitäten messbar zugenommen haben.2

Delegiert der Mensch tatsächlich das Denken in den Bereich des Technischen?3

Für die lernende Gesellschaft auf dem Weg ins 22. Jahrhundert bleibt die Frage, wie man mit dem Leben in einer immateriellen Zeichenwelt in Zukunft umgehen wird. Denken und Handeln gehen auf die Logik der digitalen Medien zurück, und die Wirklichkeit des Seins ist überschattet vom digitalen Schein. Die Charakteristik der heutigen Gesellschaft wird zumeist mit dem Überbegriff „Informations- und Wissensgesellschaft“ beschrieben. Doch mit der zunehmenden Konvergenz der Medien haben sich auch der Wert und das Verständnis von Information verändert. Mit den Cross-Media-Strategien vermischen sich Angebotsformen, deren Informationscharakter nicht unumstritten ist. Die Rollenverteilung von Informationsanbietern und Informationsempfängern beginnt sich aufzulösen – was die Frage aufwirft, wie sich der Einzelne oder die Gesellschaft in Zukunft unter den veränderten medialen konvergenten Bedingungen informieren kann. Wo liegt dann noch die produktive Sinngebung in der Integration der neuen Technologien?4

Die Vielfalt neuer Medien und ihre zunehmende Durchdringung des Alltags mit immer neuen Informationsangeboten erfordert von Mediennutzern ein Bewusstsein für verwertbare Informationen und die Fähigkeit, eine richtige Auswahl aus dem Informationsangebot zu treffen – eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, der im schulischen Bildungskontext eine besondere Bedeutung zukommt. Wie lassen sich medienvermittelte Informationen systematisieren? Was Menschen als relevante Informationen wahrnehmen, lässt sich nicht an einzelnen Angebotsformen ablesen, sondern die Gesamtheit der Medienkontakte ist ausschlaggebend, um sich ein Bild davon zu machen, woran ein Mensch sich im Alltag orientiert. Auf Grundlage einfacher Klassifikationen lassen sich Informationsbedürfnisse nach vier Bedürfniskategorien festlegen.5 Eine Rekonstruktion des mediatisierten Alltags wird mit der Anwendung dieser Kategorien konzeptionell und empirisch greifbarer. Mit dem Aufbruch vom 21. ins 22. Jahrhundert werden für die lernende Gesellschaft konkrete Handlungsfelder immer wichtiger, da sie an eine zukunftsorientierte Veränderung der Bildungsstrukturen geknüpft sind. Das Lernen im virtuellen Raum wird in wenigen Jahren zum Lernalltag gehören und fester Bestandteil schulischer Bildung sein. Blended Learning, also die Verbindung von klassischen Präsenzveranstaltungen und Online-Lehre, ist heute schon an deutschen Hochschulen Alltag. An Schulen wird sich dieses Prinzip noch durchsetzen müssen, um den Weg für das selbst organisierte Lernen frei zu machen. Für die lernende Gesellschaft müssen solide Grundlagen geschaffen werden, die insbesondere bildungsfernen und benachteiligten Gruppen einen gangbaren Weg zu kontinuierlichem Lernen aufzeigen. Der offene Zugang zu Online-Kursen und Lehrmaterialien sind der erste Schritt. Damit das gelingen kann, ist die Bereitschaft jeden Einzelnen notwendig, sich am lebenslangen Bildungsprozess zu beteiligen und die von Institutionen angebotenen Lernmöglichkeiten auch anzunehmen.

Der Begriff des lebenslangen Lernens ist jedoch nicht nur auf bildungspolitische Aktivitäten beschränkt, sondern umfasst vor allem die Stärkung des Leitgedankens, Menschen in ihrer Eigenverantwortung zu fördern und Chancenungleichheit abzubauen. Hierbei wäre eine größere Transparenz der Bildungsangebote sowie Information und Beratung hilfreich. Die Schaffung lernförderlicher Umgebungen ist besonders für diejenigen in der Bevölkerung notwendig, die, bedingt durch soziale oder kulturelle Hintergründe, benachteiligt sind. Die wirtschaftlichen Strukturveränderungen werden in den nächsten Jahrzehnten noch komplexer werden und erfordern im gesellschaftlichen Kontext immer neue Kenntnisse zur Sicherung des eigenen Lebens. Noch nie zuvor verfügte die Menschheit über so viel Macht über andere Menschen, über Natur und Umwelt. Globalisierung und Mediatisierung haben dazu beigetragen, dass die Ungerechtigkeit auf der Welt stetig zunehmen wird. Die Hoffnung auf humane Bildung – und damit die Schaffung einer Basis für eine humane Welt – wird immer fragiler angesichts humanitärer Katastrophen, die mittlerweile zum Alltag aller Gesellschaften gehören.

Mit den technologischen Innovationen hat sich auch das Wertesystem verändert – moralische Anschauungen sind vermehrt unserem subjektiven Empfinden unterworfen. Was ist aber die Wertebasis, auf der die Gestaltung der Digitalisierung aufbaut? Schon bald wird das Internet wie die Erfindung von Telefon und Radio ganz und gar selbstverständlich geworden sein. Selbststeuernde Autos, Kommunikation via Computer und künstliche Intelligenz zur Organisation des Lebens sind nicht mehr nur futuristische Visionen, sondern schon Gegenwart. Mit dem riesigen Potenzial an gespeichertem Wissen wird die „Augmented Reality“, die durch Technik erweiterte Realität, zur Normalität werden. Geist und Körper werden vollkommen auf die neueste Technologie ausgerichtet sein. Die Gesellschaft der Zukunft wird eine aktive und lernende sein, weil sie gar keine andere Wahl hat. Es wird nicht der technologische Fortschritt sein, der die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten beschäftigen wird, sondern Kriege, Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit, die Massenmigrationen auslösen und bestehende Kulturen umwälzen werden. Laut einer aktuellen UN-Studie wird die Weltbevölkerung ab 2050 auf ca. 9 Milliarden Menschen angestiegen sein.6 Angesichts knapper Ressourcen wird eine globale Umverteilung unvermeidbar sein. Aus den damit veränderten Machtstrukturen wird eine neue globale Kultur wachsen, die Einfluss auf das westliche Demokratieverständnis haben wird.

Die Weltgemeinschaft steht am Beginn einer neuen Ära, und die Rahmenbedingungen von Macht und individueller Freiheit unterliegen den Veränderungsprozessen durch die digitale Welt. Um die lernende Gesellschaft für die zukünftigen Entwicklungen in der analogen und digitalen Welt fit zu machen, sind konsequente Förderung und Aufklärung nötig – und die Zuversicht, dass die kulturelle Vielfalt eine Bereicherung für alle Menschen ist.

To be continued…

1 Vgl. Carr, Nicholas: The Shallows. What the Internet is Doing to our Brains. Norton & Company, New York, 2010.

2 Vgl. Flynn, James R.: Are we getting smarter? Rising IQ in the Twenty-First Century. Cambridge University Press, Cambridge, 2012.

3 Vgl. Serres, Michel: Der Mensch ohne Fähigkeiten. In: Bruns, Karin; Reichert, Ramón (Hrsg.): Reader Neue Medien. Bielefeld, 2007, S. 85. Anmerkung: Serres hält fest, dass mit Papier und Buchdruck ein Wandel der Denkmodelle verbunden war, und auf die Geschichte der Philosophie folgt die Geschichte der Trägermedien. Wann immer neue Wissenschaft entsteht, wird es neue Narrative und Philosophien geben.

4 Vgl. Hasebrink, Uwe; Domeyer, Hanna: Zum Wandel von Informationsrepertoires in konvergierenden Medienumgebungen. In: Hartmann, Maren; Hepp, Andreas (Hrsg.): Die Mediatisierung der Alltagswelt. VS, Wiesbaden, 2010, S. 50.

5 Vgl. Hasebrink. Uwe; Domeyer, Hanna: a. a. O., S. 58–63. Anmerkung: Vier Bedürfniskategorien: ungerichtete Informationsbedürfnisse, themenbezogene Interessen, gruppenbezogene Bedürfnisse und konkrete Problembedürfnisse. Sie lassen sich auf prototypische Medienangebote und Publikumskonzepte beziehen. Damit entsteht ein Instrumentarium für eine integrierte Analyse des Informationssektors, mit dem sowohl angebots- als auch nutzerbezogene Perspektiven erfasst werden können.

6 Vgl. http://de.statista.com/themen/75/weltbevoelkerung/. Letzter Zugriff: 22. September 2015.

Veröffentlicht von

Dr. Kai Pöhlmann

Dr. Kai Pöhlmann ist Inhaber der ABACUS Nachhilfe Institute Hamburg und Kreis Pinneberg und Gründer des ersten ABACUS-Nachhilfeinstitutes nördlich der Isar. Google+

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