Nun doch mit Wissenslücken in Mathe erfolgreich durchs ABI?

Im Rückblick auf den fast 10 Jahre währenden Zeitraum meiner Tätigkeit als Nachhilfelehrer im Bereich der MINT- Fächer erinnere ich mich lebhaft an viele Situationen, in denen ich Schülerinnen / Schülern vehement klar zu machen versuchte, dass Wissenslücken in Mint-Fächern – meist ging es konkret um Mathematik – schlichthin nicht zulässig sind. Ich war stets fest davon überzeugt, dass das Wissen, das im Mathematikunterricht von der Grundschule über die Sekundarstufen und schließlich im Oberstufenbereich stufenweise vermittelt und gefestigt werden soll, unverzichtbar sei und lückenlos beherrscht werden müsste. Diese Überzeugung ist darauf begründet, dass jeder aktuell im Unterricht behandelte Lehrstoff die Basis für die kommenden Aufgabengebiete darstellt. Den Anforderungen der Leistungsnachweise in der Oberstufe bis hin zum Abiturium kann nur entsprechen, wer das jeweils erforderliche Basiswissen abrufen und anwenden kann. Und natürlich gilt das uneingeschränkt auch über die Schulzeit hinaus, sofern eine naturwissenschaftliche Ausbildung an einer Universität oder Fachhochschule beabsichtigt ist.

Anlass zu dieser Diskussion waren und sind in der Tat vor allem Lücken im Wissen mathematischer Grundkenntnisse, wie sie in schöner Wiederholung bei vielen Gelegenheiten und zahlreichen Schülerinnen / Schülern immer wieder anzutreffen sind, wie etwa die Themen:
– Sicherer Umgang mit negativen und positiven Zahlen und Grundrechenarten
– Bruchrechnung
– Potenzgesetze
– Kenntnisse und Umgang mit den wichtigsten Funktionen: lineare, quadratische und ganzrationale Funktionen höherer Ordnung, trigonometrische und Exponentialfunktionen
– Lösen linearer Gleichungssysteme mit mehreren Unbekannten
– Analysis: Ableitung der behandelten Funktionen und die Ermittlung der entsprechenden Stammfunktionen, Funktionsanalysen
– Analytische Geometrie mit den Schwerpunktthemen der Lagebeziehung von Geraden und Ebenen im Raum, um nur die wichtigsten anzusprechen.

In dem gesamten Zeitraum, über den ich berichte, waren und sind sowohl die Schülerinnen / Schüler als auch der Nachhilfelehrer mit Taschenrechnern ausgestattet. Die Entwicklung über die Jahre zeigt, dass die funktionale Ausstattung / “Kompetenz“ dieser Rechner seitens der Anbieter in großem Umfange und mit enormer Geschwindigkeit erweitert wurde. Parallel dazu haben die Schulen ziemlich durchgängig zugelassen, dass die Benutzung dieser Rechner auf immer mehr Bereiche ausgedehnt wurde, die vermehrt auch das Basiswissen betreffen. Schon in früheren Kurzbeiträgen hatte ich angesprochen, dass zum Beispiel die gesamte Bruchrechnung von den Taschenrechnern geleistet wird. Ferner sind viele der in der Analysis behandelten Funktionen programmierbar, die Berechnung von Funktionswerten in vorgegebenen Wertebereichen der unabhängigen Variablen leistet der Rechner. Auch die Berechnung von bestimmten Integralen kann dem Taschenrechner überlassen werden.

Vor kurzem wurde ich im Rahmen einer Unterrichtsstunde im Bereich der Vektorrechnung, die ja wegen der erforderlichen Lösungsmethoden auch eng mit der linearen Algebra verzahnt ist, wieder aufs heftigste mit diesen Tatsachen konfrontiert: Es ging um die Ermittlung des Schnittpunktes zweier Geraden im dreidimensionalen Raum. Dabei muss man bekanntlich die Vektorgleichungen der beiden Geraden gleichsetzen. Man erhält eine Vektorgleichung, die die beiden Parameter der Geradengleichungen als zu bestimmende Unbekannte enthält. Die übliche Lösungsmethode besteht darin, dass man die Vektorgleichung in ihre drei skalaren Komponentengleichungen zerlegt. Daraus erhält man drei lineare Gleichungen mit den beiden Parametern der Geradengleichungen als Unbekannte. Das Gleichungssystem ist insoweit mathematisch überbestimmt, als es drei Gleichungen zur Bestimmung von zwei Unbekannten gibt. Lässt sich aus zwei der Gleichungen eine Lösung für das gesuchte Parameterpaar ermitteln, das auch die dritte – im ersten Lösungsschritt nicht benutzte – Gleichung erfüllt, dann schneiden sich die Geraden, ansonsten sind sie windschief.

Bei der Lösung derartiger Aufgaben im Unterricht berechne ich die Aufgabe immer parallel zur Schülerin / zum Schüler mit, und wende natürlich in diesem Fall die beschriebene Lösungsmethode an, die auch der Wissensvermittlung in den Schulen bisher weitgehend entsprochen hat. In dem hier angesprochenen Fall wurden auf den gegenüberliegenden Seiten des Arbeitstisches zwei verschiedene Ergebnisse ermittelt. Für mich gab es nach Überprüfung meiner Rechnung keinen Zweifel, dass mein Ergebnis richtig war.

Ich wollte feststellen, warum mein Gegenüber zu einem anderen Ergebnis gekommen war. Dabei stellte ich fest, dass die Bestimmungsgleichungen für die Berechnung der gesuchten Parameter nicht auf dem Berechnungsblatt standen. Nach der Gleichsetzung der Geradengleichungen in Vektorform stand unmittelbar das – nach meiner Berechnung falsche – Ergebnis für die gesuchten Parameter. Wie ich dann erfuhr, erlaubt die Schule – ja sie erwartet es sogar –, dass die Lösung des linearen Gleichungssystems vom Taschenrechner geleistet wird. Das Eingabeformat für die Vektorform der gleichgesetzten Geradengleichungen wird durch einen Eingabemode im Rechner aufgerufen. Dann sind die Komponenten der Stütz- und der Richtungsvektoren einzugeben sowie die Taste mit dem Gleichheitszeichen zu betätigen, und schon steht das Ergebnis im Display.

Ob dieser Vorgehensweise offensichtlich leicht geschockt und deswegen etwas ungeduldig, gelang es mir nicht, heraus zu finden, was mein Gegenüber bei der Bedienung falsch gemacht hatte. Daher schlug ich vor, zur Ermittlung der Diskrepanz der Ergebnisse gemeinsam mit der klassischen Methode – sozusagen „zu Fuß“ – das lineare Gleichungssystem zu lösen. Es zeigte sich, dass das hierzu erforderliche Grundwissen zu den besagten Lücken meines Gegenübers gehörte. Wir haben dann noch ein paar andere Aufgaben der gleichen Art behandelt, wobei wir zu übereinstimmenden Ergebnissen kamen, jeder auf seine Weise. Wenn demnach der Rechner richtig bedient wird, funktioniert die Methode. Das gilt natürlich für alle mit dem Rechner durchgeführten Operationen.

Angesichts dieser aktuellen Situation stellte ich mir dann die Frage, ob Lücken im mathematischen Basiswissen nicht doch zulässig sind und inwieweit meine vielfach “ausgesendeten“ Ermahnungen in dieser Richtung berechtigt waren. Statt ursprünglich erworbenes Grundwissen am Leben zu halten und anzuwenden, muss die Bedienerin/der Bediener bei der Lösung einer mathematischen Aufgabe also die richtigen Eingabebefehle für den Taschenrechner beherrschen, um die Anforderungen bei Leistungsnachweisen – vor allem bei den Klausuren – zu erfüllen. Allerdings gilt dies nur für den Teil von Prüfungen – schriftlicher oder mündlicher Art – bei denen Hilfsmittel, also eben Taschenrechner zugelassen sind. Unangenehmerweise gibt es neben dieser Art von Leistungsnachweisen auch solche, bei denen dies nicht der Fall ist, wie bei praktisch allen Klausuren in Sekundarstufe II und in der Oberstufe, die zur Festlegung der Zensuren im Halbjahres- bzw. Jahresabschluss gewertet werden. Hier ist ziemlich einheitlich – sowohl in der Sekundarstufe II als auch in der Oberstufe – der sogenannte Hilfsmittel freie Teil vorgeschaltet.

Was also tun? Hoffen, dass die vorhandenen Lücken nicht stören, oder den Misserfolg in diesem Teil des Leistungsnachweises in Kauf nehmen?
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Diese Strategie gehört zu der Kategorie “ Durchmogeln“ und darf nicht zur Maxime für Bildung und Ausbildung im MINT-Bereich erhoben werden.

Bei allen Zweifeln der geäußerten Art bleibe ich bei dem Grundsatz: In Anbetracht des dringenden Bedarfes an gut ausgebildeten Naturwissenschaftlern im Bereich der MINT-Berufe muss die mathematische Ausbildung an den Schulen auf einem Stand sein, der es den Abiturienten möglich macht, den Anforderungen in den wesentlichem Fächern eines naturwissenschaftlichen Studiums an einer Universität oder einer Fachhochschule zu genügen, sollten sie sich denn für diesen Studienzweig entscheiden. Dazu gehört in erster Linie eine durchgängige Wissensbasis und – nachgeschaltet – natürlich auch die Kompetenz, Hilfsmittel – wie Rechner – sinnvoll einzusetzen.

Veröffentlicht von

Hensel

Prof. Dr. Wilfried Hensel, TU Berlin. 30 Jahre naturwissenschaftliche Lehrerfahrung

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